Vor dem Hintergrund der koreanischen Teilung herrscht in Korea ein großes Interesse an der Überwindung der deutschen Teilung und der Wiedervereinigung. Im Vorfeld des XIII. Deutsch-Koreanischen Forums, das vom 9. Bis 11. Juli 2014 in Seoul stattfand, führte Kim Young-Hie, Editor at Large der Zeitung JoongAnglbo, hierzu nachfolgendes Interview mit dem deutschen Ko-Vorsitzenden des Deutsch-Koreanischen Forums, Bundesbeauftragten Hartmut Koschyk:
Die Sichtweise “Wiedervereinigung ist ein ökonomischer Glücksfall” ruft ein starkes Interesse an der deutschen Einheit hervor, und viele Experten der deutschen Einheit besuchten unlängst Südkorea. Die Teilnehmer des 13ten jährlichen Deutsch-Koreanischen Forums vom 9.-11. Juli, welches von der Ewha Womans University ausgerichtet wurde (Jungang Ilbo berichtete), waren allesamt “sehr wichtige Leute”, die spezifisches Wissen und Interessen zu Themen der koreanischen Halbinsel haben. Das Forum wurde nach einer produktiven Debatte und Diskussion erfolgreich abgeschlossen. Vor dem Forum interviewten wir den deutschen Vorsitzenden des jährlichen Deutsch-Koreanischen Forums, den Bundestagsabgeordneten Hartmut Koschyk, über die Interna der deutschen Einheit und die Lehren, die Korea aus der deutschen Wiedervereinigung ziehen kann.
Kim Young-Hee: Herr Koschyk, wo waren Sie am Tag des Falls der Berliner Mauer am 9. November 1989 und was haben Sie an diesem Tag gemacht?
Hartmut Koschyk: An diesem Tag war ich in Bonn, der damaligen Hauptstadt der Bundesrepublik, und erhielt einen Anruf von einem Freund, der zu dieser Zeit auch Mitglied des Bundestags war. Er rief “beeil dich und mach den Fernseher an!” Als ich meinen Fernseher einschaltete, verkündete Günter Schabowski, Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, die Reisefreiheit für Ostdeutsche, und ich sah augenblicklich den Mauerfall.
Kim: Im März 2014 besuchte Präsidentin Park Geun-Hye Deutschland und traf Kanzlerin Angela Merkel. Auf dem Gipfel beschrieb Präsidentin Park die koreanische Wiedervereinigung als einen “wirtschaftlichen Glücksfall”, und Kanzlerin Merkel beschrieb die deutsche Einheit als einen “Glücksfall”. Wenn die deutsche Einheit als ein Glücksfall bezeichnet wird, untergräbt dieses Statement Merkels nicht die Bedeutung und den Stellenwert der ostdeutschen Revolution?
Koschyk: Diese Aussage Merkels untergräbt definitiv nicht die Begeisterung der ostdeutschen Bürger für Freiheit, Demokratie und Revolution. Betrachtet man die historische Perspektive, führten die Umstände in den Internationalen Beziehungen früher oder später zur deutschen Einheit. Der Generalsekretär der Sowjetunion Michail Gorbatschow und US-Präsident George H. Bush stimmten beide für eine deutsche Wiedervereinigung, und die skeptischen Nachbarländer Deutschlands hießen eine deutsche Einheit auch willkommen. Im Lichte dieses internationalen diplomatischen Hintergrunds, der eine deutsche Wiedervereinigung begrüßte, bezeichnete Kanzlerin Merkel sie als einen Glücksfall.
Kim: Nun ja, die Helsinki-Schlussakte von 1975, die polnische Solidaritätsbewegung der 1980er, Gorbatschows Machtübernahme 1985 und neuausgerichtete Politiken waren alles positive Faktoren für die deutschen Wiedervereinigung.
Koschyk: Ganz genau. Alle diese Ereignisse verhielten sich wie Puzzleteile, die zur deutschen Einheit führten. Diese Teile kamen verblüffenderweise zur rechten Zeit am rechten Ort für die Einheit zusammen.
Kim: Der Vordenker der Ostpolitik, Egon Bahr, SPD-Politiker, nannte Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl als die drei wichtigsten Beitragenden. Dies ist sehr bezeichnend. In Korea sind politische Parteien sehr kritisch gegenüber anderen Parteien und deren Erfolgen. Ich verstehe die Beiträge von Willy Brandt und Helmut Kohl für die deutsche Einheit, aber warum wird der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, als einer der bedeutendsten Mitwirkenden für die deutsche Einheit betrachtet?
Koschyk: Konrad Adenauer verfolgte eine diplomatische Freundschaft mit Ländern wie Frankreich und Israel, was eine Basis für die Umsetzung der Ostpolitik darstellte. Westdeutschlands Beteiligung in der NATO legte auch eine Grundlage für die Ostpolitik. Wenn es keine Westpolitik Adenauers gegeben hätte, hätte die Ostpolitik viel länger gebraucht, um sich zu entwickeln.
Kim: Die Ostpolitik war in Wirklichkeit keine neue Idee oder Politik. Sogar Willy Brandt hat dies zugegeben. Hitlers Invasion Europas nannte sich auch “Ostpolitik”. Gab es keine Kritik für den Namen “Ostpolitik” aufgrund von Hitlers schändlicher Hinterlassenschaft?
Koschyk: Am Anfang bezeichneten Egon Bahr und Willy Brandt die Ostpolitik beide als „neue Ostpolitik“. Das Motto hieß “Wandel durch Annäherung”. Dies drückt auch das Anliegen Westdeutschlands aus, freundschaftliche Beziehungen nicht nur mit Ostdeutschland, sondern auch mit anderen Ländern des Warschauer Pakts aufrechtzuerhalten.
Kim: Nach der deutschen Wiedervereinigung waren viele Ostdeutsche von der Situation des neu vereinten Deutschlands enttäuscht. Dieser Umstand ist als “Ostalgie” bekannt geworden. Das Phänomen ist ein guter Anhaltspunkt für Koreaner. Wenn die Wiedervereinigung zwischen den beiden Staaten auf der koreanischen Halbinsel tatsächlich stattfindet, muss die Wiedervereinigungspolitik das Gefühl der Enttäuschung der Nordkoreaner, die nostalgisch gegenüber der früheren Regierung Nordkoreas sind, verhindern. Warum waren manche Ostdeutsche nach der Wiedervereinigung enttäuscht?
Koschyk: Die meisten Ostdeutschen sind mit der Einheit zufrieden. Allerdings möchten die Ostdeutschen als einer der wichtigen Akteure auf dem Weg zur deutschen Einheit anerkannt werden. Diejenigen, die nicht zufrieden sind, sind meist die, die das sich schnell verändernde Wirtschaftssystem nach der Einheit nicht angenommen haben. Die Arbeitslosenrate war in der älteren Generation höher, da sie auf dem neuen Arbeitsmarkt keine Stelle fanden, und sie bezeichneten sich als Verlierer. Darum beobachte ich den Industriepark Kaesong sehr genau. Während der deutschen Teilung gab es so etwas wie den Industriepark Kaesong nicht. Nordkoreaner haben die Chance, vor dem Wiedervereinigungsprozess das weltweite Wirtschaftssystem zu erleben und zu verstehen. Ich hatte die Chance, den Industriepark Kaesong zu besuchen, und war überzeugt, dass jeder nordkoreanischer Arbeiter in Kaesong revolutionäre wirtschaftliche Veränderungen erlebt. Sie erleben das bessere südkoreanische Wirtschaftssystem und humane Arbeitsbedingungen. Der Kontakt zwischen industrialisierten südkoreanischen Unternehmen und den nordkoreanischen Arbeitern bringt ihnen revolutionäre Veränderungen.
Kim: Es ist ermutigend, diese Art von Feedback von einem Außenstehenden zu hören.
Koschyk: Während meines Besuchs des Industrieparks Kaesong wurde ich von vielen hochrangigen nordkoreanischen Beamten begleitet, und ich bin sicher, dass sie starke Gefühle hatten, als sie die süd- und nordkoreanische Jugend bei der Zusammenarbeit gesehen haben.
Kim: Haben Ost- und Westdeutschland inzwischen eine vollständige Integration und die Beseitigung des Phänomens „Ostalgie“ erreicht?
Koschyk: Ja, ich habe große Fortschritte beobachtet. Viele Jugendliche aus Ost und West haben mittlerweile andere Teile Deutschlands besucht oder dort studiert. Sogar aus meinem Wahlkreis Bayreuth befinden sich momentan viele Jugendliche in Sachsen und Thüringen. In Bezug auf den Lebensstandard gab und gibt es deutlich erkennbare Fortschritte in der Integration.
Kim: Ich hörte, es gibt noch immer mehr Herausforderungen.
Koschyk: Es lässt sich schwer sagen, dass der Integrationsprozess komplett abgeschlossen ist, aber es wurden große Fortschritte, gar ein Durchbruch erzielt. Es gibt überall auf der Welt Leute, die sich ausgeschlossen fühlen. Aber mit dem Aufkommen der neuen jungen Generation fühlen auch sie, dass die Integration erreicht wurde. Die Bundesregierung veröffentlicht einen jährlichen Report zum Wiedervereinigungsprozess um herauszufinden, wie es um die sozioökonomische und politische Integration in Ost und West steht. Momentan ist die Arbeitslosenrate in Deutschland die geringste in Europa, vor allem bei den Jugendlichen. Es ist schwer zu sehen, wie sehr sich Deutschland trotz der europäischen Wirtschaftskrise und den Schwierigkeiten des Wiedervereinigungsprozesses weiterentwickelt hat. Der Stolz der Ostdeutschen ist groß, da sowohl Kanzlerin Merkel als auch Bundespräsident Joachim Gauck aus Ostdeutschland sind.
Kim: Ich hörte, dass Ihre Eltern beide aus Oberschlesien stammen, was heute eine polnische Provinz ist.
Koschyk: Das stimmt.
Kim: Dann erlauben sie mir bitte eine Frage. In 1972, als Ost- und Westdeutschland den Grundlagenvertrag ratifizierten, waren sowohl CDU als auch CSU gegen den Vertrag, da er die deutsche Teilung verfestige. Die CSU brachte den Fall sogar vor das Bundesverfassungsgericht als eine Verletzung der Verfassung. Waren Sie, mit Ihren beiden Eltern aus der Region Schlesien, gegen den Vertrag?
Koschyk: Zu der Zeit hatte die Wählerschaft von CDU und CSU die Befürchtung, dass die deutsche Teilung gefestigt würde. Dem Bundesverfassungsgericht zufolge gab es Schnittmengen im Grundlagenvertrag zwischen Ost- und Westdeutschland. Aber die Regierung sollte den Wiedervereinigungsprozess nicht übersehen. So konnte Kanzler Kohl, CDU-Politiker, Dialoge führen und hatte eine Grundlage für die Einheit.
Kim: Was glauben Sie ist der wichtigste Punkt, den Korea von der deutschen Wiedervereinigung lernern sollte?
Koschyk: Korea sollte nicht außer Acht lassen, dass die deutsche Einheit nur mit einer Kombination Internationaler Beziehungen, darunter Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion möglich war. Die Helsinki-Schlussakte, die USA-UdSSR-Beziehungen und die 2+4 Strategie waren alle sehr wichtig. Für Koreas Friedensprozess sind die nordkoreanischen Atomwaffen, die mit Hilfe der Sechs-Parteien-Gespräche beseitigt werden müssen und eine nordostasiatische Version der Helsinki-Schlussakte wichtige Entwicklungen für die koreanische Wiedervereinigung.
Kim: Sie sagen, dass internationale Einstellungen wichtig für die Wiedervereinigung sind. Als die Berliner Mauer fiel, waren Frankreich, Großbritannien und Polen sehr vorsichtig gegenüber Deutschland. Wie konnte Kanzler Kohl diese Herausforderungen überwinden?
Koschyk: Dieses Problem konnte mit dem Vertrauen, das die europäischen Nationen in Deutschland hatten, gelöst werden. Kanzler Kohl betonte, dass die deutsche Einheit nicht mit den diplomatischen Einstellungen Europas kollidieren sollte. Er war außerdem der Meinung, die deutsche Einheit sei ein zweischneidiges Schwert. Folglich unterstützte Kohl die Stärkung der Europäischen Union als einheitliche Regierung bedingungslos – dies führte zum ersten großen Schritt für die EU, dem Vertrag von Maastricht.
Kim: Dieser Umstand scheint auch für die koreanische Wiedervereinigung zu gelten. Eine Nordostasiatische Kooperation zu verfolgen und Frieden durch Stärkung der koreanisch-chinesischen und koreanisch-japanischen Beziehungen zu schaffen ist notwendige Bedingung. Die Beziehungen zwischen den USA und China müssen spannungsfreier werden und die koreanisch-japanischen Beziehungen müssen auch verbessert werden, als weitere Faktoren für eine Wiedervereinigung.
Koschyk: Ich stimme ihnen zu. Die Lösung des Problems der koreanischen Einheit liegt in der kooperativen Atmosphäre und Vertrauen in der Region. Für den Frieden in dieser Region müssen die kontroversen historischen Konflikte beendet werden.
Kim: Aber Japan und die Regierung Abe gehen in die entgegengesetzte Richtung zu Deutschland in der Lösung historischer Konflikte.
Koschyk: Japan muss realisieren, dass seine zukünftige Wirtschaft von regionalem Vertrauen und Kooperation abhängig ist. Deutschlands Erfolg im europäischen Wirtschaftssystem basiert auf dem Vertrauen seiner Nachbarn in Deutschland. Es gibt keine europäischen Staaten, die Angst davor haben, dass Deutschland nicht die Verantwortung für seine Taten übernimmt. Japan muss verstehen, dass die Lösung historischer Uneinigkeiten und Verständnis der anderen Nationen durch Dialog die einzigen Möglichkeiten sind, um aus der momentanen Situation als Gewinner hervorzugehen.
Kim: Deutsche NGOs sind sehr aktiv in Nordkorea. Deutschland hat sogar eine Botschaft in Pjöngjang. Wie ist die Beziehung zwischen Deutschland und Nordkorea, vor allem im wirtschaftlichen Bereich?
Koschyk: Zurzeit gibt es nur Kontakte und Kooperationen mit deutschen NGOs und Firmen, keine offiziellen auf Regierungsebene. Deutschland gibt grundlegende humanitäre Hilfe für die Menschen in Nordkorea, aber es gibt dort nicht viele wirtschaftliche Aktivitäten. Wenn Nordkorea konstruktiv und produktiv an den Sechs-Parteien-Gesprächen teilnimmt, werden sich die nordkoreanisch-deutschen Beziehungen naturgemäß verbessern. Deutschland will die Beziehungen zu Nordkorea nicht abbrechen. Unter der Bedingung, dass Nordkorea aktiv an den Sechs-Parteien-Gesprächen teilnimmt, würde Deutschland seine Beziehungen zu Nordkorea verbessern.
Kim: Letzte Frage. Es gibt viele Kooperationen und gemeinsame Aktivitäten von Deutschland und Korea. Anlässlich des bevorstehenden deutsch-koreanischen Forums, veranstaltet von der Ewha University, würde ich gerne mehr Einblicke und Visionen zur Entwicklung dieses Forums vom deutschen Vorsitzenden hören.
Koschyk: Das Forum hat sich immer schon schweren Themen gewidment. Korea und Deutschland arbeiten hier zusammen, um die globalen Herausforderungen zu bewältigen, welche beide Länder betreffen. In naher Zukunft würde ich gerne auch Spezialisten und Experten aus China und Japan sehen, um zu den Themen des Forums beizutragen.
Kim: Danke für Ihre aufschlussreichen Antworten.
Zum Zeitungsartikel in koreanischer Sprache, der am 18. Juli 2014 erschienen ist, gelangen Sie hier.