[Porträt] Ye-One Rhie – eine neue Ära und ein neues Gesicht für Deutschland
Ye-One Rhie – eine neue Ära und ein neues Gesicht für Deutschland
Autor: Muhong Lee
Die Bundestagswahl am 26. September hat weltweit Aufmerksamkeit erregt, da sie nach 16 Jahren Amtszeit von Angela Merkel eine neue Ära für Deutschland einläuten soll. Es war daher keine große Überraschung, dass sich die Erwartungen der deutschen Bürgerinnen und Bürger an Veränderungen in den Wahlergebnissen deutlich widerspiegelten und infolgedessen viele neue Gesichter mit unterschiedlichem Hintergrund in den Deutschen Bundestag einzogen.
Am 27. September in den frühen Morgenstunden des nächsten Wahltages verkündete eine Bundestagskandidatin der SPD für den Wahlkreis 87 / Aachen 1 das Ergebnis der Wahl auf ihrem Twitter-Account mit einem etwas aufgeregten, aber auch gleichzeitig ruhigen Ton: „Ich musste bis heute morgen warten, aber jetzt ist klar: Ich bin im Bundestag!“. Es war ihr erster Beitrag auf Twitter als Bundestagsabgeordnete. Diese neue Kandidatin für den Wahlkreis trat die Nachfolge von Ulla Schmidt an, die das Mandat für 31 Jahre innehatte. Ye-One Rhie, die keine Sekunde zögert, sich selbst als „Öcherin“ zu bezeichnen, löste damit ihre Vorgängerin ab. Die in Aachen geborene und aufgewachsene Frau sticht unter ihren Kolleginnen und Kollegen nicht nur durch ihre Kompetenz in der vielfältigen kommunalpolitischen Arbeit in ihrer Heimatstadt hervor, sondern auch dadurch, dass sie die erste Bundestagsabgeordnete mit koreanischem Migrationshintergrund in Deutschland ist.
„Heimat für alle LIEBE“
Die gebürtige Öcherin sagt selbstbewusst, „Ich will, dass Aachen eine Stadt bleibt, die alle willkommen heißt und Heimat für viele ist“. Diese Idee liegt ihr sehr am Herzen und dafür gibt es einen triftigen Grund. Die Familie der 1987 in der alten Kaiserstadt geborenen Frau war einst von der Abschiebung nach Korea bedroht, als sie elf Jahre alt war. Die Aufenthaltsgenehmigung ihres Vaters, der in Aachen studiert hatte und inzwischen als Dozent an der RWTH Aachen arbeitet, lief damals aus und das Schicksal ihrer Familie hing in der Luft. Die junge Ye-One Rhie, die damals überzeugt war, dass Aachen ihre Heimat ist, bat die damalige Aachener SPD-Bundestagsabgeordnete Ulla Schmidt um Hilfe, die sich entschloss, ihrer Familie beizustehen. Dank der Unterstützung konnte Aachen weiterhin ihre Heimatstadt bleiben. Dieser Vorfall überzeugte allerdings sie voll und ganz davon, sich für diejenigen einzusetzen, die vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind und jede Art von staatlicher Unterstützung benötigen.
Nach ihrem Abitur 2006 studiert Ye-One Rhie von 2006 bis 2012 Politikwissenschaft sowie Sprach- und Kommunikationswissenschaften an der RWTH Aachen. Während ihrer Studienzeit erhielt sie eine Studienförderung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sie während ihres Studiums in die SPD-Jusos eintrat. Sie war stellvertretende Vorsitzende der Jusos Aachen im Studierendenparlament und setzte sich für Themen wie soziale Gerechtigkeit, Migration und Integration ein. Nach ihrem Studium begann ihre berufliche Karriere als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Bertelsmann Stiftung und arbeitete zugleich zeitweise für das Wahlkreisbüro der SPD-Bundestagsabgeordneten Ulla Schmidt. Inzwischen engagierte sie sich weiter in der SPD Aachen und ist seit 2010 Mitglied des Parteivorstands der SPD Aachen. Im Jahr 2015 wechselte Rhie ins Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, wo sie als Referentin im Stabsreferet „Kommunikation“ tätig war. Seit 2018 ist sie stellvertretende Vorsitzende und Delegierte in überregionalen Gremien wie dem Landesparteirat, dem Landesparteitag und dem Parteikonvent der SPD. Derzeit ist sie im Rahmen einer Abordnung am DWI – Leibniz-Insitut für Interaktive Materialien in Aachen als Referentin für Wissenschaftskommunikation tätig.
„der Satz ‚das ist unfair‘ soll aus unserem Sprachgebrauch verschwinden“
Für die 34-jährige Kommunikationswissenschaftlerin, Tochter einer Krankenschwester im Aachener Luisenhospital, genügt dieser eine Satz, um zu erklären, warum sie Politik macht. Sie sagt, immer noch denken und sagen viele Menschen in diesem Land viel zu oft „Es ist unfair“, obwohl es Deutschland eigentlich ganz gut gehe. Gerade aus ihren bisherigen Erfahrungen in der Kommunalpolitik ist ihr sehr bewusst, dass in vielen Bereichen wie Bildung, Arbeitsmarkt und Gestaltung der sozialen Infrastruktur noch immer soziale Ungerechtigkeit herrscht. Und sie wolle das ändern. So sind beispielsweise chancengerechte Bildungsangebote, ein stabileres Rentensystem, bezahlbare Wohnräume, sicherere Arbeitsplätze und eine ordentliche Bezahlung für sozial Benachteiligte ihre Hauptanliegen.
Das Projekt „Athene – Bildungschancen für Aachen“, das sie 2011 mit einigen ihrer Studienfreunde initiiert hat und darauf abzielt, Kindern und Jugendlichen die Vorbilder, Ermutigungen und Ratschläge zu geben, die ihnen fehlen, ist ein Beispiel dafür. Darüber hinaus wurde sie 2014 in den Rat der Stadt Aachen gewählt und hat sich als Mitglied des Ausschusses für Arbeit, Wirtschaft und Regionalentwicklung sowie des Bürgerforums für die Mobilitätspolitik engagiert. Seit sieben Jahren kümmert sie sich um die Koordination der Mobilitätspolitik der SPD-Ratsfraktion – zunächst in der großen Koalition mit der CDU und aktuell mit wechselnden Mehrheiten. Als mobilitätspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion hat sie durch diverse Projekte wie Radentschied, die Vision 2027 der ASEAG, dazu beigetragen, Weichen für zukunftsweisende Konzepte und Strategien zu stellen.
Für ihr herausragendes kommunalpolitisches Engagement wurde sie im Jahr 2015 mit dem Helene Weber-Preis ausgezeichnet.
Die erste Bundestagsabgeordnete mit koreanischen Wurzeln
Ye-One Rhie, die fehlerfrei deutsch und koreanisch spricht und in der Harmonie dieser beiden Kulturen aufgewachsen ist, gibt ein außergewöhnliches Beispiel für Integration, dem vor allem für die koreanische Gemeinschaft in Deutschland, die die größte in ganz Europa ist, eine große Bedeutung beigemessen werden kann. Sie erinnert sich noch gut an das gewöhnliche Weihnachtsessen in ihrer Kindheit mit Kimchi von ihrer Mutter und dazu noch mit selbst gebackenen Kuchen von ihrer Nachbarin, s. g. ihrer „deutschen Oma“, die die 1987 nach Deutschland eingewanderte Familie von Rhie ohne Vorurteile akzeptierte. Und Rhie freut sich, dass sie diese etwas ungewöhnliche Essenskombination als „unsere einzigartige Tradition“ bezeichnen kann.
Dies entspricht genau dem, was sich das Deutsch-Koreanische Forum für die künftigen Beziehungen zwischen Deutschland und Korea wünscht. Sie hat uns gezeigt, dass es durchaus möglich ist, dass die zwei scheinbar grundverschiedenen Länder, die 8.415 km weit voneinander entfernt sind, zusammenkommen und schließlich unsere Werte miteinander teilen können. Ye-One Rhie, die früher für ihre Heimatstadt Aachen arbeitete, sitzt jetzt im Deutschen Bundestag, um positive Veränderungen in Deutschland herbeizuführen. Das Deutsch-Koreanische Forum hofft, dass sie eine Brücke zur Verbesserung der bilateralen Beziehungen zwischen beiden Ländern wird, so wie die Szene am Tisch, an dem sie saß, als sich zwei Kulturen trafen und miteinander harmonierten.
Der Autor:
Muhong Lee, Praktikant beim Deutsch-Koreanischen Forum e. V., Masterstudent im Studiengang Internationale Wirtschaft & Governance an der Universität Bayreuth